Aus der Praxis
Kreative Therapie mit Kindern
... Als René mit vier Jahren zu mir kam, zeigte er nach wie vor viele Symptome der Vernachlässigung: Aggressionen gegen andere und sich selbst, Bettnässen, starke Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche, Erstarrung bei Berührung, Entwicklungsdefizite in der Grobmotorik, Ängste und vieles mehr. Da René Musik über alles liebt, kam die Pflegemutter auf die Idee, mit mir als Musiktherapeutin Kontakt aufzunehmen. Die Kinderärztin und die Jugendhilfe befürworteten von Anfang an diese Maßnahme.
Schon nach etwa drei Stunden konnte René alleine bei mir bleiben. Es waren aber zunächst gar nicht die Instrumente, die ihn faszinierten, sondern die riesigen Papierbögen und die vielen bunten Ölwachsmaler. René, der weder zu Hause noch im Kindergarten Lust zum Malen zeigte, begann sich seine eigene „große, weite Welt“ zu schaffen. Blatt für Blatt zeichnete er Landschaften voller Eisenbahnschienen und Straßen für seine Eisenbahnen und Autos, die er jede Stunde mitbrachte. Da gab es Wiesen, Moore für Frösche und andere (Instrumenten) Tiere und Puppen. Es entstanden sein eigenes Haus mit vielen Räumen, Länder, in denen große und kleine Gespenster und Monster lebten, Feuer, Höhlen, Verschiebebahnhöfe und, und, und…
Beinahe jede Stunde wurde ein neues Blatt gestaltet und angeklebt, so dass seine selbst entworfene und vor allem von ihm zu bewältigende Welt immer größer wurde. Ich saß oft nur staunend neben ihm auf dem Boden und freute mich über das tatkräftige Wirken dieses kleinen, mutigen Jungen. Wir erlebten unzählige gefährliche Abenteuer. Wir kämpften gegen Gespenster und Monster (und es waren viele) und natürlich besiegten wir sie! Wir trommelten den Regen und den Sturm und wir zauberten mit selbst gebastelten Zauberstäben die Sonne hervor. Wir spielten eben! René machte die Erfahrung, dass er gestalten, verändern und bewältigen kann. Dabei war er nie allein, immer in Begleitung durch mich und die vielen tollen Freunde im Abenteuerland.
Inzwischen hat René die Zweidimensionalität des Papieres gegen die vier Dimensionen unseres 60 m2 großen Praxisgruppenraumes eingetauscht. Hier ist nun sein Abenteuerland und unsere Abenteuer gehen weiter…
Eva-Maria Lütkemeyer
Die Bühne
Frau S. kommt zu mir in die Einzeltherapie, nachdem sie ein Jahr lang an meiner tanztherapeutischen Gruppe für Frauen mit Krebserkrankungen teilgenommen hat. Sie ist drei Jahre zuvor an Brustkrebs erkrankt. Nun hat die Krankenkasse die Kosten für eine Einzeltherapie übernommen.
Sie kommt in die Therapiestunde und ist, wie so oft, erschöpft und müde. Sie erzählt davon, dass ihre Schwester ihr wieder 'die Schau gestohlen' hat. Laut und interessant kann sie von sich erzählen. Das kennt Frau S., da kann sie nicht mithalten und eigentlich will sie das auch gar nicht, aber irgendetwas stört sie. In der zurückliegenden Woche begegnete ihr das gleiche Thema im Kontakt mit einer Kollegin. Frau S. hat den Eindruck, dass diese Kollegin sich immer in den Mittelpunkt stellt und Anerkennung erntet, obwohl sie kaum etwas schafft. Die wirkliche Arbeit muss sie, Frau S., machen. Auch die Kollegin bespielt die Bühne des Sich-Sichtbar-Machens perfekt. Frau S. ist müde, findet das ungerecht und zugleich will sie sich nicht in der Vordergrund drängen. Die Bühne gehört den anderen.
Da uns dieses Thema schon lange begleitet, bitte ich Frau S. im Raum eine Bühne aufzubauen. Sie teilt einen großen Bereich meines Therapieraumes ab, mit festen Sitzkissen gestaltet sie das Erhöhte einer Bühne. Auf meine Aufforderung hin betritt sie die Bühne. Sie ist sehr vorsichtig und bleibt am Rand. Ich frage sie, was sie fühlt. „Gar nichts“, sagt sie. Spürbar wird das Unbehagen, das sie umgibt und die Unsicherheit, mit der sie da auf den Sitzkisssen steht. Ich spiegele ihr das, was ich sehe: Eine Frau, die sich kaum traut aufzutreten, die ganz leicht nach vorn gebeugt und damit beschäftigt ist, alles im Blick zu haben und in dieser Haltung erstartt ist. Sie erklärt, dass sie keinen Schritt weiter zur Bühnenmitte gehen kann und sich statt dessen am liebsten verstecken möchte.
Dann ist die Erinnerung da. Leiblich. So war es vor mehr als 30 Jahren als sie im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie aus Polen nach Deutschland gekommen ist. Sie konnte nur gebrochen deutsch. In der Schule sowie im schulischen Umfeld traute sie sich nicht zu sprechen. Es war hörbar, dass sie nicht 'von hier' war. Sie wurde von Lehrern abwertend behandelt, im besten Fall ignoriert und von Gleichaltrigen gehänselt. Das Erleben der damals fast 12-Jährigen beschränkte sich auf das 'Ungenügend-Sein'. Für sie war dieser Orts- und Nationenwechsel, den sie überhaupt nicht verstand, weil sie sich in Polen sehr wohl gefühlt hatte, ein fast traumatisches Erlebnis. Sie sagt, sie habe alles verloren und sich nur fremd und einsam gefühlt. Ihre Rettung war das Schweigen und der Rückzug. Sie hat sich versteckt, von anderen fern gehalten und kaum gesprochen. Damals sei sie vor allem darauf bedacht gewesen, nicht aufzufallen, die Sprache möglichst schnell zu lernen, akzentfrei zu sprechen und sich gut anzupassen. Das alles wäre jahrelang gut gewesen. Jetzt würde sie merken, dass dies eine starke Belastung ist und sie sich immer noch schämt, wenn sie auf ihren leichten Akzent angesprochen werde. Genauso hat sie sich auch während der Krebserkrankung gefühlt. Das Erleben des Anders-Seins und des Gemieden-Werdens hat sich wiederholt.
Während Frau S. erzählt, weichen die Spannung und die Anstrengung, die zuvor in der Atmosphäre waren, merklich. Ich frage sie, welche Unterstützung die 11-jährige damals gebraucht hätte. „Einen sicheren Boden und jemand, der mich an die Hand genommen hätte“, sagt sie. Spontan. Ich bitte sie mit mir zusammen zu schauen, was verändert werden muss im Raum, damit es ihre Bühne wird. Mit meiner Unterstützung baut sie die Bühne um: Sie wird kleiner, es gibt Möglichkeiten, sich anzulehnen und es gibt Wege, auf denen sie die Bühne verlassen kann. Doch immer noch ist sie unsicher. Es ist sichtbar, und sie spürt es auch: Ihre Schritte sind vorsichtig, ihre Füße finden den Boden nicht. Es gibt Halt für den Rücken, aber keinen festen Boden. Sie fürchtet die kritischen Blicke und Äußerungen der anderen. Ich frage sie, ob ich zu ihr auf die Bühne kommen darf und bitte sie, mir einen Platz zu geben. Da merkt sie, wie wichtig es damals gewesen wäre, dass jemand neben ihr steht, manchmal nah und manchmal ferner. Es war niemand da. Der Vater war enthusiastisch im neuen Deutschland-Leben, die Mutter trauerte dem Leben in Polen nach und war ebenfalls nicht präsent. Sie war allein und habe seit damals auch alles allein gemacht, auch das Bewältigen ihrer Erkrankung.
Nach einigen weiteren Therapiestunden, in denen die 'Bühne' und damit zusammenhängende Lebensthemen im Focus stehen, gelingt es Frau S., selbstsicherer zu ihren Kompetenzen in ihrer Arbeit zu stehen. Und sie erfüllt sich einen großen Traum. Sie meldet sich zu einem Fernlehrgang Fotografie an, ein sehr arbeitsintensives und anspruchsvolles Vorhaben auf hohem Niveau. Stolz zeigt sie mir ihre Fotos und auch die Bewertungen und Rückmeldungen ihrer Ausbilderin. Hier bin ich der Anfang der Bühne. Nach und nach traut sie sich auch ihrer Familie und ihren Freunden von dieser Leidenschaft und der Ausbildung zu erzählen, erntet Bewunderung und kann sich kritischen Nachfragen ('Warum machst du denn in deinem Alter noch eine so teure Ausblidung?') gelassen stellen.
Aus der Praxis von:
Lore Remke
„Da steht Papa!“
Der 12jährige Frederik ist vier Wochen nicht bei mir gewesen. Er kommt in die Praxis und freut sich offensichtlich, mich wiederzusehen. Über das ganze Gesicht strahlend schaut er mich an und fast nimmt er mich in den Arm. Dann drückt er mir lange die Hand zur Begrüßung.
Wir gehen vom Flur in meinen Therapieraum und sofort sieht er aus dem Fenster und sucht seinen Vater. Dieser steht unten auf dem Bürgersteig der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten und wartet auf seinen Sohn.
"Da steht Papa!“, meint Frederik zufrieden.
Wir setzen uns.
"Alles in Ordnung“, meint er.
„Können wir wieder verstecken spielen?“
"OK, fängst du an?"
"Ja, ich nehme diese beiden Autos."
Frederik geht aus dem Raum, ich bleibe im Sessel sitzen. Draußen wird er die beiden Autos im Flur, in einem der Bäder, in der Küche oder im großen Gruppenraum verstecken. Nicht in jeder, aber in vielen Stunden will Frederik verstecken spielen. Es geht darum, "ihn" zu suchen und zwar ernsthaft. Immer wieder! ‚Suchst du mich? - Gibst du auch nicht auf? Meinst du wirklich mich? ‘ Es geht um Beziehung, den gemeinsamen Boden testen und für fest befinden. Suchen heißt genau hinsehen. Frederik will gefunden werden, gesehen werden.
Na klar suche und finde ich ihn.
Jetzt verstecke ich meine beiden Autos und Frederik muss mich suchen und finden. Auch in dieser Rolle muss ich ihn ernst nehmen. Nicht zu einfache Verstecke, ihm etwas zutrauen. Ein bisschen ist es wie miteinander kämpfen oder uns wertschätzend aneinander reiben.
Wieder Wechsel. Jetzt passiert etwas, was Frederik so noch nie gemacht hat. Er versteckt seine Autos an meinen vorherigen Verstecken. Bei mir kommt an:
Ich muss mir keine Verstecke mehr suchen, du musst mich nicht mehr suchen, ich bin für dich leicht zu finden!
"Jetzt ist es genug mit verstecken spielen." sagt Frederik.
Er schaut auf die Uhr und stellt fest, dass wir noch fast eine halbe Stunde Zeit haben.
„Dann können wir Elfer Raus spielen."
"Zu zweit? Macht das nicht mehr Spaß mit vielen?", ist meine Frage.
"Nein, zu zweit ist gut. Dann haben wir ganz viel Zeit, es in Ruhe zu Ende zu spielen. Beim letzten Mal mussten wir mittendrin aufhören."
Die letzte halbe Stunde spielen wir Elfer Raus ohne Hektik, ohne einmal abgelenkt zu sein, konzentriert und mit Leidenschaft.
Auch jetzt geht es wieder darum, dass ich Frederik ernst nehme als Gegenüber und Spielpartner und dass ich ihn nicht enttäusche, ihn nicht verlasse und meine Aufmerksamkeit ihm ganz schenke.
Frederiks Eltern sind seit 5 Jahren geschieden. Ich weiß, dass Frederik sich durch seine Mutter häufig nicht ernst genommen fühlt. Ganz oft hat er sich früher darüber beklagt: Versprechen, die sie nicht erfüllt hatte, Geburtstagsgeschenke, die sie ihm wieder weggenommen hatte, Geld, das sie von seinem Konto genommen hatte, Familienreisen, von denen er ausgeschlossen wurde, usw.
Seit ca. 2 Monaten wohnt Frederik jetzt beim Vater - und auf dessen Wort weiß er, kann er sich verlassen.
"Da steht Papa!"
Eva-Maria Lütkemeyer